Verschwenderisch schreiben!
Verschwenderisch schreiben!
Ich hatte mal ein Büro im vierten Stock, von dem aus ich eine uralte Kastanie bestaunen konnte. Im Frühjahr trieb sie aus, an jedem Ast standen die dichten Kerzen mit ihren unzähligen kleinen rosa Blüten. Nur aus einem Bruchteil der Blüten wurden hellgrüne stachelige Knospen, so groß wie Murmeln, und von denen fegte der Wind auch noch den größten Teil von den Ästen. Im Herbst war oft nur noch eine einzige dicke Kastanienfrucht von einer ganzen Kerze übriggeblieben. Wenn sie sich vom Ast löste und gut umhüllt auf den Asphalt unten aufschlug, kullerte eine dunkel glänzende, wunderschöne Kastanie heraus. Wenn ich sie dann aufsammelte und auf meinen Schreibtisch legte, dachte ich oft: Was ist die Natur doch verschwenderisch, so viele Blüten zu bilden – und alles nur für die eine Frucht, die bis zum Ende durchhält?
Warum du bei Schreiben viele Blüten brauchst …
Lässt sich beim Schreiben die eine Idee erkennen, die bis zum Ende durchhält? Lässt sich aus den vielen Ideen die eine herausfischen, die trägt, genug Tiefe hat, schön klingt? Die Verlockung ist groß, schon aus der Kerze an Ideen die eine Blüte herausgreifen zu wollen, die es wert ist, vollendet zu werden. Die Folge: Es schwirrt im Kopf: Taugt die Idee wirklich? Oder wäre nicht doch die andere Idee besser? Oder die dritte? Oder die vierte? Oder eine Kombination aus eins und fünf? Oder trägt keine der Ideen, sind nicht alle zu banal? Und so bleibt das Blatt leer.
Das Bild der verschwenderischen Natur hilft hier weiter: Sammle erstmal alle Ideen für Geschichten und lass sie Blüten sprießen. Schreib drauf los, lass dich überraschen, wohin eine Geschichte rennt, schreib gleich eine ganze Handvoll von kleinen Geschichten oder Romananfängen, genieß das Schreiben an sich und hab gar nicht den Anspruch, dass jede Geschichte genial sein muss.
… und dann ein paar grüne Knospen
Einige der Ideen gefallen dir vielleicht schon so gut, dass du sie weiterverfolgst, ausbaust, nochmal neu schreibst, detaillierter planst. Anders gesagt: Lass ein paar kleine grüne Knospen wachsen.
Und dann weißt du irgendwann, welches die eine Geschichte ist, die du wirklich fertig schreiben willst, und die wird dann wunderschön wie eine Kastanie im Herbst. Klingt ähnlich verschwenderisch wie bei der Natur. Aber woher willst du denn sonst bei all den Ideen zu Beginn wissen, welches die eine glänzende Kastanie werden kann?
Lass deine Ideen-Blüten sprießen!
Das Fünf-Minuten-Schreiben von Roberta Allen beruht auf denselben Gedanken: Schreibe fünf Minuten lang zu einem kleinen Impuls (ja, der Zeitdruck ist bewusst gewählt, damit innere Kritiker*innen erst gar keine Chance bekommen, sich murrend zu Wort zu melden).
- Schreibe fünf Minuten über eine Begegnung, die anders verläuft, als geplant.
- Schreibe fünf Minuten über ein Geschenk, das du loswerden willst.
- Schreibe fünf Minuten über einen Brief, den jemand verloren hat.
Und vielleicht will schon eine dieser Ideen zu einer Knospe werden?
Literaturtipp: Roberta Allen (1997): Fast Fiction. Creating Fiction in Five Minutes.
Schlagwörter
Ideen entwickeln, Innerer Kritiker, Krumme Wege, Schreibblockade, Selbstcoaching, Starten, Kreatives Schreiben
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