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Lernen muss wehtun

Nein, muss es nicht. Nein, darf es nicht. Soviel vorweg.

Mit dem Satz „Lernen muss wehtun“ hat sich gerade eine Deutschlehrerin an einer katholischen Grundschule den Eltern ihrer neuen 4. Klasse vorgestellt. Unterstrichen hat sie ihre Botschaft damit, dass sie der Hälfte der Klasse auf das erste Diktat eine 6 gegeben hat – eine Note pro Fehler, macht bei 5 Fehlern und 90% richtig Geschriebenem eine 6.

Wie ist es möglich, dass jemand mit solch einer Haltung im Jahr 2018 noch Lehrer*in werden kann und darf?

Es wird vermutlich immer Menschen geben, die in den Lernideologien des 19. Jahrhunderts steckengeblieben sind. Die – der Hattie-Studie & Co. zum Trotz – immer noch glauben, dass Kinder etwas lernen, indem man sie systematisch demotiviert, erniedrigt, beschämt und ihnen Angst vor der Schule einjagt. Nur: Wieso hat dieser Frau im Studium niemand nahegelegt, dass sie sich lieber eine Tätigkeit sucht, bei der sie nichts mit Menschen zu tun hat?

Und dann denke ich an die Lehramtsstudierenden, die ich selbst unterrichtet habe. Die Mehrheit war großartig, engagiert, offen und neugierig. Und ich erinnere mich an eine Studentin, die Autorität und Herrschaft als notwendige Voraussetzung für ihren Unterricht angesehen hat – sie von dieser Haltung oder von ihrem Berufswunsch abzubringen, ist mir nicht gelungen.

Wie ist es möglich, dass solche Personen tatsächlich unterrichten dürfen?

Ich empfinde den Satz „Lernen muss wehtun“ und diese Notengebung als gewalttätig. Und ich frage mich, wie sich die Schulleitung, die Kolleg*innen verhalten. Lassen sie es geschehen, trösten die weinenden Kinder und belassen es dabei? Sehen sie aus falsch verstandener Loyalität weg? Was ist das für eine Gesellschaft, in der Kinder so jung erfahren, dass sie der Willkür einer Machtperson so ohnmächtig ausgeliefert sind? Ob sich diese Kinder einmal für eine demokratische, offene Gesellschaft engagieren werden?

Wie ist es möglich, dass sich die Eltern nicht zusammenschließen und gemeinsam zur Wehr setzen?

Sicher, niemand möchte mit Eltern in eine Ecke gestellt werden, die sich jedes Mal beschweren, wenn ihr Wunderkind keine 1 bekommen hat. Und auch die Sorge ist zu verstehen, dass Eltern befürchten, dass ihre Kleinen nach einer Beschwerde erst recht schikaniert werden. Aber hilft es den Kindern (und nicht nur den eigenen) wirklich, nichts zu sagen und nur dem eigenen Kind Nachhilfe zu organisieren? Schützen sie damit nicht viel stärker die Lehrerin als die Kinder?

Und was hat dies alles mit Schreiben zu tun?

Wenn Menschen mit Schreibblockaden in meinen Schreibraum kommen, dann ist aus meiner Erfahrung die häufigste Ursache Verunsicherung. Die Angst, Fehler zu machen, sitzt tief. Die Angst, wieder gedemütigt und bloßgestellt, abgewertet und beschämt zu werden, blockiert die Schreibenden mehr als alles andere. Und manchmal kommt dann die Sprache auf die Schulzeit, den Deutschunterricht, der das Selbstvertrauen in das eigene Schreiben, in die eigene Sprache zerstört hat, indem nur die Fehler betont wurden, statt wertzuschätzen, was alles gut ist: die Ideen, die Kreativität, die sprachlichen Fähigkeiten, die kleinen und großen Wort-Schätze.

Higher and Lower Order Concerns

So oft wird die Fähigkeit, schreiben zu können, mit dem Beherrschen von Rechtschreibregeln verwechselt. Als würde dieses Regelwissen etwas nutzen, wenn ich mich nicht traue, das, was ich zu sagen habe, überhaupt zu Papier zu bringen. Aus gutem Grund sprechen wir in der Schreibdidaktik von Higher Order Concerns für Inhalt, Argumentation und Struktur sowie von Lower Order Concerns für Rechtschreibung, Grammatik und Zeichensetzung.

Einen Nobelpreis kann gewinnen, wer eine geniale Entdeckung gemacht hat, aber für die Rechtschreibung ein Korrektorat braucht (das er sich dann allerdings auch leisten sollte). Hat es schon einmal umgekehrt funktioniert?

 


Schlagwörter

Austausch, Innerer Kritiker, Schreibblockade, Wissenschaftliches Schreiben, Berufliches Schreiben, Kreatives Schreiben

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